Eine Pflanze ist eine Blume, ist ein Baum, ist ein Wald…
Clemens Seitz ist ein Klassiker und Purist – für ihn ist „Photographie“ immer noch mit dem doppelten ph geschrieben – also in der ehemals klassischen Schreibweise. Sie lässt den Ursprung aus dem Griech-ischen erkennen – und wie das Wort weiterhin international in anderen Sprachen existiert und sofort vertraut erscheint. Auch die eigentliche Wortbedeutung wird dadurch unterstrichen – Zeichnen mit Licht, Lichtaufzeichnung.
Aber Clemens Seitz arbeitet nicht mehr analog, sondern mit Digitalkameras und lässt seine Bilder auf Spezialpapier für den Fotodruck herstellen. Im Druckverfahren mit echten Pigmenten werden sehr gute Resultate erzielt – farbig, s/w und auch in einem sanften Sepia-Ton. Die meisten der hier ausgestellten Arbeiten sind auf Alu-Dibond aufgebracht, so dass sie mit diesem festen Untergrund rahmenlos gehängt werden können. Das gilt auch für die mit Hilfe eines Scanners abgebildeten Scanografien, die seit 2006 entstehen und von denen viele Beispiele ausgestellt sind.
Einige Motive sind hinter Acrylglas gesetzt. Davon wird noch die Rede sein.
Dies alles vorausgeschickt, schauen wir uns die Ausstellung an.
Die Hängung ist wohl überlegt und wird im vorgegebenen räumlichen Ambiente (Tagungszentrum mit Fluren) für die Bilder positiv genutzt: Es gibt Sichtachsen und ästhetische Zusammenhänge.
Natur in ihrer Vielfalt und in ihren Strukturen ist das Haupt-Thema in der hier gezeigten Fotoauswahl – dabei spielen dann Ästhetik des Objekts, Farbe und Form die Hauptrolle, v. a. bei einzelnen Objekten, die dank Scanner ihre Bildwerdung „erfahren“.
Da Clemens Seitz nicht nur Einzelmotive anfertigt, sondern auch verwandte Motive als Serie festhält, gibt es etliche Bildzusammen-stellungen und entsprechende Hängungen.
Hier zeigt er Bilder maximal in Viererkonstellation (außer der Doppelreihe von 18 S/W-Bildern von Gräsern und Pflanzen in Rahmen mit Schattenfugen).
Clemens Seitz, der mit der Fotografie 1995 begonnen hat, verbindet seine Zusammenstellungen von verwandten Motiven gedanklich mit musikalischen Gruppenbezeichnungen. Kein Wunder – er ist auch ausübender Musiker. So greift er die musikalische Spielbesetzung als kennzeichnenden Begriff vom Solo bis zum Quartett auf und verbindet sie mit dem Komponieren – seine Gruppierungen werden also komponiert und mit musikalischen Ideen verbunden, wie z. B. Rhythmisierung.
Der solistische Auftritt wäre dann wohl das große einzelne Fotoformat.
Als Beispiel nenne ich das S/W-Bild Vauban 2, 2018, 40 x 60 cm, das wie in einem Blick aus dem Fenster die von Schnee bestäubten Baumäste bildfüllend wiedergibt. Diese relative Nahsicht lässt dieses querformatige Einzelbild größer erscheinen und gibt im konzen-trierten „Fensterblick“ das Astwerk und Geäst als schwarzweiße Struktur wieder.
Der Vergleich mit dem Bild als Fenster ist in der Kunstgeschichte seit der Renaissance (durch Alberti, Künstler und Kunsttheoretiker) eingeführt. Da jedoch der Blick des Bildes einen historisch gewor-denen Moment wiedergibt, lässt sich an dieser Gleichsetzung Bild mit Fenster phänomenologisch (Edmund Husserl) nicht festhalten.
Als kleineres Gegenbild zum Schneegeäst in Vauban 2 erwähne ich noch das Bild Tauwiese 1, 2014, 20 x 30 cm – hier sehen wir ebenso wie im Winterbild einen bildfüllenden Ausschnitt aus der Wirklichkeit: die grüne Fülle der Gräservielfalt in einer Wiese. Hier der Blick auf den Boden, die Erde – dort der Blick nach oben in das Baumgeäst mit dem weißen Himmel dahinter.
In meiner Laudatio richte ich nun das Augenmerk auf weitere künstlerische Aspekte einiger ausgewählter Fotografien und Scanografien.
Ich betrachte die Arbeiten von Clemens Seitz als künstlerische Bilder, nicht als Beispiele einer Medien- oder Kommunikationswissenschaft.
Fotografie ist Teil der Kunstgeschichte, seit der Kunstcharakter der Fotografie spätestens Anfang des 20. Jh. anerkannt wurde. Fotografie ist Teil der Bildenden Kunst und wird entsprechend an den Kunstakademien und Universitäten gelehrt und erforscht.
Mit dem Titel seiner Ausstellung „Eine Pflanze ist eine Blume, ist ein Baum, ist ein Wald…“ knüpft Clemens Seitz an das berühmte Wort von Gertrude Stein an: „Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose…“ (1913: Rose is…/ Variante 1935: A rose is…)
Diese redundante Wiederholung dessen, was tautologisch auf sich selbst als das Immergleiche verweist, ist durch die Abwandlung von Clemens Seitz als Betonung des gemeinsamen Ursprungs der Ersch-einungen aus der Natur mit den sich daraus entwickelnden Zuständen vom einzelnen Kleinen in das große Vielfältige zu verstehen.
Wie er das in seinen fotografischen Arbeiten einlöst, wollen wir anhand einiger seiner hier gezeigten Beispiele betrachten.
Zu seinen Bildinteressen gehören Architektur, Stillleben, einzelne
Naturmotive wie z. B. Baumporträts und Blumen, Landschaften, Reisebilder – der Mensch ist eher selten Thema.
Mir hat er nach dem Kennenlernen und der direkten Anschauung einiger seiner Werke ein „Vademecum“, also einen Leitfaden zu Motiven und „Fundorten“ mitgegeben, aus dem seine Sorgfalt der eigenen Arbeit gegenüber hervorgeht – nicht nur in Bezug auf technische Details, sondern auch auf die Verbindung von Form und Inhalt:
Zum Beispiel zeigt sich sein inhaltliches Interesse daran, dass er „Panorama“ als Landschaftsbegriff versteht und folglich einige seiner panoramatischen Fotografien für die Landschaftsbilder nutzt, die ihm am Herzen liegen – so das Farbbild der Baumwipfel von Horben (Horben Panorama, 2020), ebenso das Bild der winterlichen Baum-stämme (Horben Panorama, 2018), das in seinem neblig-kühlen Schwarz-Weiß das Gegenstück zum hier nicht gezeigten farbigen Horben Panorama von 2014 bildet (Horben oberhalb von Günterstal, unterhalb vom Schauinsland, also zwischen Tal und Berg gelegen).
Die Umsetzung des fotografischen Interesses ist abwechslungsreich:
Es gibt die unmittelbare Betrachtung der Natur mit einer Standortwahl in der Natur – der schöne und besondere Einzelbaum mit entfaltetem Astwerk, die sanft geneigte Wiese – Kulturresultat jahrhundertelanger bäuerlicher Arbeit, für Stadtmenschen Ort der Erholung, der Erinnerung, der Selbstfindung.
Diese Empfindung stellt sich ein im Blick auf eine Landschaft mit der ihr eigenen Charakteristik wie im Bild von Horben, Bäume im Mai II, 2016, mit sanft gedehntem Wiesenhang, Waldsaum und Einzelbäumen. Horben als einer der Lieblingsplätze von Clemens Seitz wird nochmals in einer schönen Paarung von Winter- und Sommer-Ansicht einer eindrucksvoll gewachsenen alten Buche mit Fernsicht gezeigt, Buche Horben, 2015/2016. Der Baum ist in seiner ausladenden Krone vom oberen Bildrand eingegrenzt, was aber diesem Motiv von Nähe und Weite einen Schutzcharakter gibt, so dass hier auch Geborgenheit als Thema aufscheint. Auch die warmtonige SepiaAusführung trägt dazu bei: Sie nimmt dem Winterbild die kalte Härte.
Eine weitere Arbeit im leicht bräunlichen Sepia-Ton statt hartem S/W gibt es in dem Tulpen-Bild von 2011. Es zeigt die eigentlich ver-schiedenfarbigen Blumen in sanften Tonlagen. So lenkt keine Buntheit von den besonderen Formen und Zeichnungen der Blüten und Blätter, von den Strukturen der Bildorganisation ab. Dieser Strauß zeigt im kleinen Querformat – fast wie eine klassische Sepiagrafik – eine elegante Gesamterscheinung.
Nun wende ich mich dem klassischen Bild einer klassischen Fotografie zu: der S/W-Arbeit mit dem Titel Hecken, das zudem als klassisches Triptychon ausgestellt ist – also mit einem mittleren quadratischen und zwei seitlichen hochrechteckigen Bildern. Die unterschiedlichen Grauwerte lassen die drei Motive zunächst nüchtern erscheinen und diese Farbabstraktion führt zur Wahrnehmung von fast flächigen Formabstraktionen – bis wir erkennen, dass es sich um parkartig geschnittene Sträucher, z. B. um Buchsbaum handelt.
Die Künstlichkeit des Motivs wird durch die abstrakt eingesetzte Nichtfarbe zu einer Anmutung von Monument gesteigert – unterstrichen von der Form des Triptychons, dieser Dreier-konstellation, die in der Bildgeschichte als Würdeoder Pathos-Formel gilt. [Altäre seit dem MA, Moderne: Beckmann]
Das Naturmotiv mit seinem Wachstum wird unterdrückt – im angeschnittenen Motiv wird hingegen die Statik betont. Die Symbolform der Parkanlage ist in dieser Gestaltung des Künstlichen auf künstlerische Weise aufgehoben, dreifach ganz im Hegel‘schen Sinne – der ursprüngliche Zusammenhang ist entfernt, ist auf eine andere Ebene gehoben, er ist bewahrt in neuer Gestalt und in neuem Kontext.
Vergleichbar erscheint das Motiv Bananenblatt mit drei Bildern von 2015, je 20 x 30 cm: Aber hier mit drei Querformaten ist die Wirkung der gedehnten Dreier-Konstellation weniger klassisch – die drei Motive erscheinen in ihren Grauwerten sehr verfremdet – fast als abstrakt-unbestimmbare Materialien mit Strukturen nahezubringen ist eine der selbstgestellten Aufgaben von Clemens Seitz.
Eine weitere Ebene der Naturbetrachtung bieten dann die Motive, die als optische Abstraktion zum fotografischen Bild werden – wie die eben genannten Bananenblätter. Als farbiges Beispiel zeigt sich hier eine Vierergruppe, in der v. a. die Motive Bärlauch (2018) und Gingko (2015) als Ausschnitt in starker Nahsicht zu einer abstrakten grünen oder gelben Monochromie werden. Farbpigmente geben den Ton an!
Der fotografische Prozess mit der Kamera wurde von Clemens Seitz im Sinn des Digitalen – wie erwähnt – durch die Arbeit mit dem Scanner erweitert, um eine neue Art der Tiefe in seinen Bildern zu erzielen.
Das Verfahren eignet sich für frei bewegbare Objekte, mit deren Größe die Auflagefläche ausgenutzt werden kann. Durch das Scannen lassen sich Strukturen abtasten (auch als Ausschnitt eines Bildobjektes) und mit der räumlichen Tiefenillusion ist eine besondere Brillanz der Scanografie verbunden.
In vier schmalen hochrechteckigen Formaten verbindet Clemens Seitz vier Scanografien zu einer Reihe. Sie zeigen vier Einzelpflanzen: Nadelkissen 7, 2019 / Kurrajong-Flaschenbaum 1 a, 2018 / Narzissen 1, 2016 / Flaschenputzer 1-1, 2017, alle je 30 x 9,3 cm.
Die Freisetzung der Einzelpflanze vor dem dunklen Hintergrund hebt diese wie kostbare Einzelstücke hervor (denken Sie an die Tulpen-manie in Holland und Europa im 17. Jh., als einzelne Tulpen ein Vermögen kosteten und diese kostbaren Tulpen einzeln in teuren Gemälden porträtiert wurden). Diese Einzelpflanzen hier sind aber auch voneinander isoliert, was durch die Acrylglas-Abdeckung von 6 mm Stärke intensiviert wird. Durch diese Glasschicht ergibt sich ein zusätzliches visuell-ästhetisches Moment: Die Tiefenwirkung verschärft sich und verstärkt Schatten- und Lichtzonen, so dass z. B. die beiden Blätterkränze des Flaschenputzers als scheinbar plastisch-räumliche Elemente wahrgenommen werden können. Außerdem bekommt das Bildobjekt ein haptisches Moment und die Kostbarkeit des Einzelmotivs ist wie in einem gläsernen Tresor zur Schau gestellt.
Eine weitere Arbeit spielt mit der Reihe der Einzelpflanze auf anders differenzierte Weise: Im Querformat von 32 x 100 cm sind neun Exemplare von Silybum marianum (Mariendistel), 2014, neben-einander in einer symmetrischen Weise auf dunklem Hintergrund aufgereiht. Von der Mitte aus gesehen – einer Pflanze mit zwei Blütenköpfen – sind links und rechts drei etwa gleich hohe Pflanzen angeordnet, denen als beidseitiger Schluss jeweils ein kleineres Pflanzenexemplar beigesellt ist. Das Bild eines Hofstaates könnte mir dazu einfallen…
Von der Bildikonografie her ist hier die Freiburger Malerin Beatrice Adler zu nennen, die systematisch seit einigen Jahren Einzelpflanzen – v. a. Gräser und Löwenzahn als Pusteblumen – in kleinen Quadrat-bildern in feinster Weise malt. Die filigranen Pflanzen sind als eigenständige Realität im hellen Bildgrund ohne Verortung festgehalten. Verblüffend ist, dass die Malerin ebenso wie der Fotograf die Einzelpflanze vom unteren Bildrand her gesehen abgeschnitten darstellt.
Die von Clemens Seitz fotografierten Exemplare der Mariendistel haben ihre leuchtenden Blüten verloren – sie sind hier als ver-trocknete, verdorrte Pflanzen fotografiert, deren Dornen an den kleinen Stengelblättern optisch hervorstechen. Die Mariendisteln zeigen alle Zeichen der Vergänglichkeit, als memento mori – gedenke des Todes! Diese Arbeit ist ebenfalls mit einer Acrylglasschicht ab-gedeckt – hier wie ein gläserner Sarg für die vergängliche Natur…
In einer ausgesucht schönen und beziehungsreichen Dreier-konstellation von Mohnkapseln (Mohn 1, 2020), Knoblauchblüten (Knoblauch 3, 2019), und Artischockenblüte (Artischocke 8, 2019) ragen drei Pflanzenarten in den dunklen Untergrund hinein – wie aus einem unergründlichen Nichts tauchen sie auf. Aber die drei Bilder zeigen mit Stielen und Fruchtständen oder Blüten das Wesentliche der Gestalt der drei genannten Pflanzenarten. Bemerkt werden kann auch, dass – rechts beginnend – von der Einzahl über die paarweise Anordnung zur Dreizahl der ausgereiften Mohnkapseln eine
konzeptuelle Anordnung getroffen wurde. Formal und farblich gleichen sich Artischocke und Mohn mit ihrer Entfaltung im Hochformat an und die beiden rötlichen Knoblauchblüten vermitteln leicht geneigt zu ihrer jeweiligen Nachbarpflanze. Im Grunde öffnen sich alle drei Bildkompositionen fächerförmig von unten nach oben – ohne jegliche Penetranz der Gestaltung.
Wir haben gesehen:
Clemens Seitz nutzt seine beiden fotografisch-digitalen Techniken – einmal Kamera, einmal Scanner – optimal, um entsprechende Bildresultate zu erzielen. Von der Anlage her wären auch größere Formate zu wünschen, denn in vielen seiner Bilder ist eine innere Monumentalität enthalten, die erst noch entfaltet und in größeren Arbeiten wirksam werden könnte.
So kann ich mir das Bildpaar (je 30 x 45 cm) von Zimmertanne 5, 2019, und Zwiebelblüte 1, 2019, in seiner großartigen doppelten Reduktion der Form auf eine Arabeske der Linie in einem zusammengeführten großen Format gut vorstellen.
Meine kleine Bildauswahl traf ich, um bestimmte Aspekte der hier sichtbaren Bildsprache zu beschreiben.
Sie können hier noch etliche weitere Motive entdecken.
Clemens Seitz will seine bisherigen Motive weiter ausarbeiten – work in progress. Daher wird es interessant werden, seine fotografische Arbeit in weiteren Ausstellungen zu verfolgen und dann auch einer z. B. siebenteiligen Serie zu begegnen.
In einigen Arbeiten ist der künstlerische Ausdruck in der Reduktion auf eine Oberfläche zu einem Bild der Abstraktion entwickelt – s/w wie farbig – und damit eine neue Kunstrealität erschaffen. In anderen wird die Nahsicht zu einem Erleben von Verletzlichkeit der Pflanzenwelt. Gleichzeitig wird ihre Preziosität, ihre Kostbarkeit deutlich gemacht. Pflanzen und Natur sind uns tatsächlich nahe gebracht – aber nicht seziert wie unter einem Mikroskop, sondern als Wesen der Natur – zu der wir als menschliche Lebewesen auch gehören -, deren Schönheit, Besonderheiten, Skurrilitäten und Vielfalt zu erhalten wir uns dringend bemühen sollten.
Susanne Meier-Faust, M. A. ©SMF2023